Mi, 30.04.2014Die Kirchen müssen sich in gesellschaftliche und politische Prozesse einmischen

Vortrag von Konrad Raiser in Wiefelstede

Für mehr kirchliches Engagement in Gesellschaft und Poltik plädierte Konrad Raiser bei seinem Vortrag in Wiefelstede. Fotos: Kurt Dröge

Für mehr kirchliches Engagement in Gesellschaft und Poltik plädierte Konrad Raiser bei seinem Vortrag in Wiefelstede. Fotos: Kurt Dröge

Ein engagiertes Plädoyer für das Erfordernis, dass sich die Kirchen in gesellschaftliche und politische Prozesse einmischen müssen, hielt Konrad Raiser in der St. Johannes Kirche in Wiefelstede. Der emeritierte Theologe und langjährige Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen lebt in Berlin und sprach im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Reformation - Macht – Politik“.

Die drei Themen umkreiste der Vortragende zuerst aus historischer Perspektive. Kirchliche Strukturen zu erneuern bedeute seit der Reformationszeit mit ihrer fest gefügten ständischen Ordnung zugleich, gesellschaftliche Zustände kritisch zu hinterfragen. Den Hintergrund sollte dabei stets das Evangelium mit seinem Friedens-Gebot sowie seinen Forderungen nach Gerechtigkeit und menschlicher Freiheit bilden.

Intensive Blicke warf der bekannte Buchautor dann auf die Entwicklung von Staat und Kirche im 20. Jahrhundert in Deutschland mit den Phasen der Demokratisierung, unterbrochen vom Nationalsozialismus und den daraus zu ziehenden Lehren. Erst 1985 manifestierte sich, so der Vortragende, in der Demokratie-Denkschrift der Evangelischen Kirche ihre gewandelte Rolle im gesellschaftlichen und politischen Umfeld. Zahlreiche weitere Denkschriften belegen das spezifische Engagement der ev.-lutherischen Kirche dafür, „sich einzumischen“ und Mitverantwortung als Teil der Zivilgesellschaft zu übernehmen.

An dieser Stelle machte sich Raiser einen einprägsamen Satz des früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zu eigen: „Die Kirchen sollen nicht selber Politik machen, sondern Politik möglich machen.“ Dieser Satz beschreibt, so der Redner, präzise das Verständnis und die Ebene, auf der im öffentlichen Raum die Kirche ihre politische Rolle ausüben sollte.

Eine zentrale Bedeutung kommt dabei nach seinen Ausführungen dem Umgang mit der Macht zu. Dass die „Ausübung von Macht“, etwa in der Politik, kirchlicherseits häufig „als moralisch problematisch angesehen“ wurde und wird, dürfe nicht dazu führen, dass die Kirche sich „auf die Sorge um das Seelenheil des Einzelnen“ zurück zieht.

Statt dessen ermöglicht die bekenntnishafte Lehre von der Königsherrschaft Jesu Christi in einer demokratisch verfassten Gesellschaft, so Raiser, es auch der Kirche, „alles zielgerichtete Handeln im öffentlichen Raum“ mit zu beeinflussen. Dies geschehe jedoch tunlichst auf einer Ebene oberhalb der Partei- und Programm-Politik und müsse jenseits von Tagespolitik, verbandlichen Interessenvertretungen und Lobbyismus seinen Platz haben.

Als Weggefährte herzlich begrüßt worden war der Theologe Konrad Raiser zuvor vom Bischof der Oldenburgischen Landeskirche, Jan Janssen. Moderiert wurde der Vortragsabend von den Ammerländer Pfarrern Lars Dede und Tim Unger. Dem Vortrag schloss sich eine angeregte Diskussion an.

Die Reihe „Reformation - Macht – Politik“ wird von Peter Tobiassen vom Evangelischen Bildungswerk Ammerland im Jahreslauf 2014 durchgeführt. Sie findet ihre Fortsetzung am 12. Mai mit einem Vortrag des Friedensbeauftragten der EKD, Renke Brahms (Bremen) in Bad Zwischenahn.
Kurt Dröge


Die christlichen Werte des Evangeliums in die Politik tragen

Interview mit Prof. Dr. Konrad Raiser


Die zentrale Thematik in Ihrem Vortrag lautet nicht mehr: „Darf Kirche politisch sein?“, sondern Sie gehen mit Ihren Ausführungen einen deutlichen Schritt weiter, indem Sie fragen, auf welche Weise sich die Kirche in gesellschaftliche und politische Prozesse einmischen darf, kann, soll und sogar muss. Worauf beruht dieses Plädoyer?
Prof. Raiser: Geschichtlich gesehen hat es verschiedene Modelle des Verhältnisses von Staat und Kirche gegeben, über lange Zeit waren die Kirchen der politischen Herrschaftsordnung unmittelbar zugeordnet. Bezogen auf die heutige Zeit bin ich gegenüber einer solchen direkten Zuordnung mit der Übernahme tagespolitischer Rollen im Rahmen von Parteipolitik sehr skeptisch. Die unersetzliche Rolle der Kirchen liegt statt dessen im tradierten, starken Verständnis der christlichen Werte des Evangeliums, die in die Politik hinein getragen oder in ihr erhalten werden müssen.

Gibt es an dieser Stelle so etwas wie eine „spezifisch deutsche“ Situation?
Prof. Raiser: In gewisser Weise dürfen das Verständnis und die Aktivitäten der ev.-lutherischen Kirche schon als spezifisch verstanden werden, und benachbarte Kirchen wie die Anglikaner wundern sich manchmal über unsere Diskussionen und Verlautbarungen. Die Lehren aus den Fehlern, die im 20. Jahrhundert gemacht worden sind, wirken auf besondere Weise nach. Nach dem Ende des 2. Weltkriegs gab es vehemente Diskussionen darüber, wie ausgeprägt oder gar „radikal“ ein Verständnis von Einmischung in gesellschaftlich-politische Fragen, auch in der Tradition des deutschen Protestantismus, sein dürfe oder solle. Auf konkreten Themenfeldern wie etwa bei der Bekämpfung des Rassismus wurde und wird hier teilweise mit ungeheuer intensiven Emotionen gestritten.

Wie bewerten Sie in diesem Zusammenhang die Rolle der verschiedenen Denkschriften der Evangelischen Kirche in Deutschland? Prof. Raiser: Mehrere Denkschriften, beginnend mit dem „Darmstädter Wort“ von 1947, haben eine erkennbare und dauerhafte Wirkung nicht nur innerhalb der Kirche, sondern in die Politik hinein ausgeübt. Die Ostdenkschrift der EKD von 1965 sehe ich als wunderbares Beispiel dafür, dass die Kirche entscheidende Impulse in die politische Debatte eingeben kann, ohne selbst, in diesem Fall im Rahmen der nachfolgenden Ostpolitik, politisch aktiv zu werden. Im Falle der Demokratiedenkschrift von 1985 hat es allerdings sehr lange gedauert, bis sich unsere Kirche zu einer solchen Stellungnahme in der Lage sah. Insgesamt, so würde ich feststellen, werden die politischen Konflikte anders, gemeinschaftlicher und versöhnlicher, mit einander ausgetragen: Dazu hat die Kirche sicher beigetragen.

Gab es nach 1989 eine ähnliche Problematik?
Prof. Raiser: Die Übernahme kirchlicher Strukturen nach den Zusammenschlüssen ist an vielen Stellen sicherlich kritisch zu betrachten. Interessant ist aber auch, dass unmittelbar nach 1989 durchaus zahlreiche Politiker in den neuen Bundesländern als evangelische Geistliche gleichsam ihr „politisches Handwerk“ in synodalen Gremien gelernt hatten. Ich spreche hier gern von der „Macht der Gemeinschaft“, die im Gegensatz zur „Macht der Obrigkeit“ ihren Ausdruck auch in Regierungen finden kann. Der Staat ist für mich eine Funktion der Gesellschaft und bildet nicht deren Herrschaft, hier wünsche ich mir nach dem Vorbild des anglikanischen Government auch bei uns ein anderes Verständnis.

Nach ihrer langjährigen Tätigkeit als Generalsekretär haben Sie, gemeinsam mit unserem Bischof Jan Janssen, im letzten Jahr die Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Korea besucht. Sind, auf das Thema Ihres Vortrags bezogen, in letzter Zeit auch auf dieser Ebene Veränderungen zu konstatieren?
Prof. Raiser: Die Spannungen zwischen den Profilen der am Ökumenischen Rat beteiligten Kirchen sind geringer geworden, das ist eine sehr positive Entwicklung. Leider hat sich in zahlreichen Ländern und Mitgliedskirchen des Ökumenischen Rates die politische und auch kirchliche Situation jedoch zugespitzt und ist schwieriger geworden. Extreme Ausprägungen militaristischer Islamisten, aber auch bestimmte Ausrichtungen im Buddhismus oder bei den evangelikalen Fundamentalisten erschweren die gemeinsame Arbeit.

Das Gespräch führte Kurt Dröge


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