Fr, 05.07.2013Sozialwissenschaftlerin: Scham hält viele Arme von Hartz-IV-Antrag ab

Hannover/Syke (epd). Viele Menschen in Armut verzichten nach Beobachtungen der evangelischen Kirche aus Scham auf staatliche Hilfe. «Sie nehmen eher die Konsequenzen auf sich als sich zu offenbaren», sagte die Sozialwissenschaftlerin Marlis Winkler aus Syke bei Bremen im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Armut werde verborgen, weil sie vielen peinlich sei.

Die Expertin bezog sich auf eine Studie des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung, die Anfang der Woche bekannt geworden war. Danach beantragen zwischen 3,1 und 4,9 Millionen Menschen in Deutschland keine Hartz-IV-Leistungen, obwohl sie einen Anspruch darauf hätten.

Scham sei für viele Menschen der Grund, nicht zum Amt zu gehen, erläuterte Winkler. «Sie sagen: Da kennt uns jeder, da sieht uns jeder.» Sie fürchteten, dass ihre Armutssituation mit einem Schlag bekannt werde.

Winkler hatte 2010 für das Sozialwissenschaftliche Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) die Studie «Nähe, die beschämt - Armut auf dem Land» verfasst. «Der erste Gang zum Amt ist ein ganz schwerer», betonte die Forscherin, die inzwischen Geschäftsführerin der Diakonischen Werke in den Kirchenkreisen Syke-Hoya und Grafschaft Diepholz bei Bremen ist.

Am häufigsten rutschten Menschen durch Arbeitslosigkeit, Krankheit, Trennung oder Scheidung in finanzielle Notlagen ab. Es könne jeden treffen, auch Akademiker. «Viele Leute sagen: Ich hätte nie gedacht, dass es mal mit mir so weit kommt.» Vor allem auf dem Land besäßen viele ein eigenes Haus und könnten dann plötzlich die Raten für den Kredit nicht mehr zahlen.

Oft sei die Immobilie selbst ein Grund, kein Hartz IV zu beantragen. «Die Angst, dass das Amt dann zugreift, ist sehr groß.» Viele Menschen in versteckter Armut bestellten als erstes die Zeitung ab. Andere machten abends kein Licht oder kauften weniger Lebensmittel. Familien meldeten Kinder von Klassenfahrten ab. Ein Bier mit Freunden in der Kneipe werde ebenso zum Problem wie Besuch zu Kaffee und Kuchen einzuladen. «Armut führt automatisch in die Isolation.»

Hilfreich für Betroffene seien offene Angebote, die nicht sofort als Projekte für Arme erkennbar seien - etwa Second-Hand-Kaufhäuser oder eine Bildungs-Chipkarte. Zudem müsse die Information über Hartz IV verständlicher werden: «Ein Antrag hat 16 Seiten. Es wird sofort hoch kompliziert.»

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