Mi, 29.07.2009Sozialexperten warnen vor Zuspitzung der Pflegekrise

Hannover/Koblenz/Oldenburg (epd). Sozial- und Pflegeexperten haben vor einer Zuspitzung in der Pflegekrise gewarnt. Der Koblenzer Sozialexperte Professor Stefan Sell sagte am Sonntag dem epd, es müsse gelingen, anständige Tarife für die Beschäftigten in die Verhandlungen mit den Pflegekassen einzubinden. Nur so könnten angemessene Pflegesätze durchgesetzt werden: «Sonst wird man mittel- und langfristig den Krieg mit den privaten Anbietern verlieren.» Die freien Wohlfahrtsverbände, zu denen auch die Kirchen gehören, müssten ihre Interessen gemeinsam gegenüber den Pflegekassen vertreten. Der von den privaten Anbietern erzeugte Preisdruck gehe zu Lasten der Beschäftigten und der Qualität in der Pflege.

   Besonders deutlich werde dies im aktuellen Konflikt in Hannover um fünf insolvente Pflegeheime der Caritas, sagte Sell. Das evangelische Johannesstift aus Berlin plant, die Heime zu übernehmen. Die rund 580 Beschäftigten müssen dabei jedoch mit Lohneinbußen bis zu 13 Prozent rechnen. Dagegen hatte es in den vergangenen Wochen zahlreiche Proteste der Mitarbeiter gegeben. Die Beschäftigten sind aufgefordert, bis Ende Juli die neuen Verträge zu unterschreiben, andernfalls droht den Heimen nach Angaben der Caritas die Insolvenz.

   Auch die hannoversche Landesbischöfin Margot Käßmann kritisierte vor kurzem das Vorgehen der Berliner: Ohne eine angemessene Bezahlung sei die Würde der Pflegenden wie der Gepflegten gefährdet. «Wir brauchen nicht nur einen Schutzschirm für Banken und Unternehmen, sondern gerade auch für die Menschen, die auf Pflege angewiesen sind», betonte sie.

   Die Konflikte in der Pflegefinanzierung seien vielfältig, sagte der stellvertretende Vorsitzende des Niedersächsischen Evangelischen Verbandes für Altenhilfe und ambulante pflegerische Dienste (NEVAP), Joachim von der Osten, aus Oldenburg. Ein gravierendes Problem seien die unterschiedlich hohen Entgelte der Pflegekassen in den einzelnen Bundesländern.

   Im Vergleich zum Preisführer Nordrhein-Westfalen zahlten die Kassen in Niedersachsen 20 Prozent weniger, erläuterte von der Osten.
Das seien bis zu 638 Euro weniger pro Pflegefall im Monat. Damit liege Niedersachsen auf dem Niveau der östlichen Bundesländer. In Niedersachsen werden die Entgelte über einen Vergleich aller Anbieter berechnet. Dabei werden unter anderem die Kosten von Diakonie, Caritas und AWO mit denen der privaten Anbieter verglichen, die erheblich geringere Löhne zahlten.

   Ein Grund dafür ist von der Osten zufolge, dass die privaten Dienstleister den Markt in Niedersachsen mit fast 60 Prozent beherrschen. Im Bundesdurchschnitt liege deren Anteil lediglich bei
39,2 Prozent, in Nordrhein-Westfalen sogar nur bei 29,2 Prozent. Dort berücksichtigten die Kassen die individuellen Probleme einzelner Einrichtungen viel stärker.

   Als Fazit sei festzuhalten: «Je mehr private Pflegeanbieter auf dem Markt sind, desto weniger Geld gibt es von den Pflegekassen», sagte von der Osten. Er kündigte eine landesweite Kampagne unter dem Motto «Ich mach mich stark für die Pflege» an, die den Bundestagswahlkampf begleiten solle.

   Der Volkswirtschaftler Sell wies zudem auf die wachsende Binnenkonkurrenz kirchlicher Anbieter hin, wie sie sich aktuell in Hannover zeige. «Diakonie und Caritas müssen sich fragen, bis zu welchen Punkt sie noch Pflege anbieten können, aber nicht mehr wollen, weil es sonst zu Arbeitsbedingungen kommt, die mit dem Gewissen nicht mehr zu vereinbaren sind», sagte der Koblenzer Professor. Auch ein möglicher Ausstieg aus der Pflege dürfe kein Tabu bleiben.


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