Mi, 25.08.2010«Literatur gehört nicht auf den Müll» - Der niedersächsische Pfarrer Martin Weskott rettete Hunderttausende Bücher

Göttingen/Berlin (epd). Am Anfang stand das Foto mit einer Müllhalde voller Bücher. Als es Martin Weskott 1991 in einer Zeitung sah, machte er sich sofort zu dem genannten Leipziger Recyclinghof auf.
«Literatur gehört nicht auf den Müll», sagte er sich und startete von seiner Heimatgemeinde Katlenburg bei Göttingen aus eine einzigartige Rettungsaktion. Mittlerweile hat der 1951 geborene Pfarrer nach eigenen Angaben mehr als 800.000 Romane und Sachbücher, Kinder- und Kochbücher aus DDR-Produktion für die Nachwelt und vor dem Schredder bewahrt.

In seinem Büchermagazin türmen sich die Stapel vor den übermannshohen Regalen. Es riecht nach staubigen Büchern, Geschichte und Geschichten. Noch heute ist Weskott empört, wenn er über die Besuche auf den Müllhalden in der ehemaligen DDR erzählt. «Da lagen Bücher herum, als seien sie von einem Miststreuer ausgespuckt.»

Nach der Wiedervereinigung hatten ostdeutsche Verlage fast ihr gesamtes Sortiment auf den Müll gekippt, aus Angst vor Absatzproblemen, «oder aus Dummheit gepaart mit Kulturlosigkeit», zürnt Weskott. Alles, was nur im Entferntesten an Sozialismus erinnerte, musste weg. Der evangelische Theologe hält das noch immer für einen «missglückten Versuch der Selbstreinigung».

«Eine Gesellschaft, die sich als Kulturnation begreift, darf das nicht. Da musste ich eingreifen.» Und so fuhr der niedersächsische Gemeindepfarrer in den Osten und entdeckte auf Abfallhalden Heinrich Mann neben Arnold Zweig, Ernesto Cardenal neben Eduardo Galeano. Er brachte die Bücher nach Katlenburg - sortierte, archivierte. Durch seine Arbeit bietet das Büchermagazin heute einen kulturhistorischen Querschnitt durch das Leben in der DDR. «Etwas Vergleichbares gibt es in Deutschland nicht», ist sich Weskott sicher.

Er greift in einen Stapel auf einem Büchertisch und nimmt ein Kochbuch in die Hand. Reich bebildert mit Bratenplatte, brauner Grundsoße, Rosenkohl und Klößen auf dem Einband bieten «Die besten Rezepte aus der Fernsehküche» einen Überblick über die Essgewohnheiten zwischen Rostock und Zwickau, weit bevor Mälzer, Lafer und Lichter Kochtipps im gesamtdeutschen Fernsehen verbreiteten.

Als 2004 die Raumsonde Cassini Bilder vom Saturn zur Erde funkte, war dies sogar Weskott zu verdanken. Denn in seiner Sammlung fanden sich die entscheidenden Fachbücher, mit deren Hilfe Wissenschaftler des benachbarten Max-Planck-Instituts für Sonnensystemforschung die Sonde richtig ausrüsten konnten.

Katlenburg ist durch die Bücherrettungsaktion auch zu einem Ort der Begegnung mit deutscher Gegenwartsgeschichte geworden. Rund 150 DDR-Autoren haben dort inzwischen aus den vom Müll geretteten Büchern gelesen, darunter Christa Wolf, Christoph Hein und Friedrich Schorlemmer. Diese Lesungen hätten auch das Bild der DDR in den Köpfen der Westdeutschen geändert, ist Weskott überzeugt, der für sein Engagement mit dem Bundesverdienstkreuz und der Karl-Preusker-Medaille ausgezeichnet wurde.

Der Bücherpfarrer möchte dazu beigetragen, die Entwicklung von DDR-Autoren und der Gesellschaft, in der sie lebten, nachzuzeichnen und verständlich zu machen. Gelegentlich führte dies auch zu «Aha»-Effekten bei den Besuchern der Lesungen. «Diese Erkenntnis, 'Mensch, da gab es ja doch Kritik', war für viele überraschend», erzählt er und verweist auf die Werke des Schriftstellers Erich-Günter Sasse: «Über die Wunden, die die Kollektivierung der Landwirtschaft in der Gesellschaft schlug, kann man offen und zugespitzt in seinen Werken lesen.» Auch Sasse habe später in Katlenburg gelesen.

Wenn der Pfarrer sonntags nach dem Gottesdienst die schwere Eichentür des Magazingebäudes auf dem Gelände der 900 Jahre alten Katlenburg öffnet, können Literaturinteressierte in der Bücherscheune stöbern und Romane und Sachbücher gegen eine Spende für «Brot für die Welt» mitnehmen. Mehr als 120.000 Euro habe er so schon gesammelt, erzählt Weskott. Mittlerweile findet er allerdings keine DDR-Literatur mehr auf Müllhalden. Stattdessen schicken ihm Verlage oder Bibliotheken von sich aus Bücher, die nicht mehr zu verkaufen oder zu verleihen sind.

Die Gemeinde, in der der Pfarrer seit 1979 predigt, habe die Leidenschaft für Literatur «von Anfang an» mitgetragen, erzählt er weiter. Den Grund dafür sieht Weskott unter anderem darin, dass er viele Bereiche des dörflichen Lebens, wie Kindergärten, Rotes Kreuz oder den Männergesangverein, mit Büchern versorgt: «Katlenburg gehört wahrscheinlich zu den Dörfern, wo am meisten gelesen wird.» Außerdem spüre seine Gemeinde in den Predigten, dass «Literatur durchaus die Verkündigung des Evangeliums beflügelt»

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