Mo, 13.07.2009„Lebensraum Kirchturm“ bietet vielen Tieren Rückzugsorte

Arche Noah im Herzen der Stadt Bremen (epd). «Kii, kii, kii» - mit schimpfend-durchdringenden Rufen zieht ein Turmfalke über dem Kirchturm der Christuskirche in Harpstedt bei Bremen seine Kreise. Irgendetwas hat den Greifvogel in seiner Brutnische gleich unter dem Sims des Turmhelms gestört. Es dauert seine Zeit, bis er sich wieder beruhigt und auf die Eier setzt. Neben den Turmfalken leben auch Fledermäuse unter dem Dach des 1753 erbauten Barockgebäudes. Vielerorts in Deutschland sind Kirchen wie diese so etwas wie eine Arche Noah für seltene Tiere mitten in der Stadt.

Den Harpstedtern ist das Turmfalken-Paar längst ans Herz gewachsen. Kirchenvorsteher Kristian Liebau hat hoch oben über den Schallluken der Glocken eine Videokamera installiert, die nun Livebilder aus der Wiege der Falken auf einen Bildschirm in der Turmhalle liefert. Während in der Christuskirche noch gebrütet wird, sind die jungen Falken andernorts schon ausgeflogen. So ist es in der Lilienthaler Klosterkirche nordöstlich von Bremen, die der Naturschutzbund Deutschland (NABU) mit der Plakette «Lebensraum Kirchturm» ausgezeichnet hat.

Etwa 55.000 Glockentürme gibt es in Deutschland. «Viel Platz für Falken, Schleiereulen und Fledermäuse», sagt NABU-Sprecherin Julia Degmaier. Gestartet wurde die bundesweite «Lebensraum»-Aktion im Jahr 2007. Zusammen mit dem «Beratungsausschuss für das Deutsche Glockenwesen» wollen die Naturschützer möglichst viele Gemeinden dafür gewinnen, ihre Gebäude für die Tiere zu öffnen. «Derzeit sind es 326 Kirchen, die bei der Initiative mitmachen», bilanziert Degmaier.

Mitinitiator und Glockensachverständiger Kurt Kramer sieht im Kirchturm als gute Stube für seltene Vogel- und Fledermausarten ein Beispiel von «Kultur und Natur im Einklang». Tatsächlich ersetzen die Kirchtürme den natürlichen Nistplatz für die ursprünglich felsen- und höhlenbrütenden Tiere. Deshalb hat auch der Lilienthaler Jürgen Radloff schon vor mehr als zehn Jahren angeregt, im Ostgiebel der örtlichen Klosterkirche einen Nistkasten für Turmfalken einzurichten.

«Seither wird bei uns jedes Jahr gebrütet. Die Tiere sind standorttreu», freut sich der 69-jährige Hobby-Ornithologe. Über der Kirche ist aber nicht nur das typische «Kii, Kii, Kii» der Falken zu hören. Auch Mauersegler umkurven elegant das Gemäuer. Und zwischen den Dachbalken hat es sich das Große Mausohr bequem gemacht, das wie alle heimischen Fledermäuse zu den bedrohten Arten zählt.

Kaum ist die Sonne untergegangen, gehört den nachtaktiven Flugakrobaten das Revier rund um die Kirche. Ähnlich wie Turmfalken und Schleiereulen nutzen Arten wie die Breitflügel-Fledermaus, das Mausohr und die Zwergfledermaus Hohlräume in Türmen, auf Dachböden und in Mauerspalten als Quartier. «Wenn Kirchenfassaden und Scheunen geschlossen werden, fehlen die Einfluglöcher, und die Fledermäuse bekommen genauso wie Turmfalken und Schleiereulen Probleme», erläutert NABU-Ornithologe Marc Süsser.

So gibt es in Deutschland nach seinen Angaben noch etwa 50.000 Turmfalken- und rund 15.000 Schleiereulen-Paare. «Die Bestände sind großen Schwankungen unterworfen, immer abhängig vom Nahrungsangebot», sagt der Diplom-Biologe Süsser. Mit der Sanierung oder dem Abriss alter Gebäude gingen in den Städten wichtige Brutplätze verloren. Nischen würden gezielt vergittert, um Tauben abzuwehren. Deshalb ist Süsser über jede Gemeinde froh, die sich der «Lebensraum»-Initiative anschließt. Die bundesweit erste Plakette verlieh der NABU der Heilandskirche in Berlin-Moabit.

In Harpstedt gehören die Falken quasi schon zur Gemeinde. Die Einwohner des Fleckens haben dem Paar Namen gegeben: Paul und Paula. Ist der Nistkasten voll, fiebern die Harpstedter mit. Das ist zuweilen spannend: Im April hatte das Weibchen fünf Eier gelegt und das Nest verlassen, um sich für das Brüten fett zu fressen. Doch dann verschwanden Paul und Paula spurlos.

«Aber es gab eine überraschende Wende», freut sich Gemeindepastor Gunnar Schulz-Achelis. «Die Falken kehrten plötzlich zurück und sitzen nun seit Mitte Juni auf frischen Eiern.» Einzeln und gruppenweise pilgern Kinder und Erwachsene zur Turmhalle, um fachsimpelnd auf dem Bildschirm das Familiendrama mit hoffentlich gutem Ausgang zu verfolgen.

Paul und Paula sitzen nun fleißig auf den Eiern und lassen sich selbst vom sonntäglichen Geläut nicht irritieren. Die Kirchengemeinde hat im Internet eine «Falken-Bildergalerie» eingerichtet. Und Schulz-Achelis freut sich schon auf die Zeit, wenn der Nachwuchs geschlüpft ist: «In den ersten Lebenswochen geht's bei Falkens turbulent zu.»

Internet: http://www.nabu.de/ http://www.glocken-online.de
http://www.kirche-harpstedt.de

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