Do, 18.10.2012Kriminologe Pfeiffer: Wahrnehmung einer brutaleren Gesellschaft ist falsch


epd-Gespräch: Markus Geiler

Hannover/Berlin (epd). Die Wahrnehmung einer zunehmend brutalen Gewalt in der deutschen Gesellschaft ist nach Einschätzung des Kriminologen Christian Pfeiffer falsch. Die Zahl der vollendeten Morde sei in den zurückliegenden 15 Jahren um 40 Prozent zurückgegangen, sagte der Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen in Hannover am Donnerstag dem Evangelischen Pressedienst (epd). Auch die Fälle von brutaler Körperverletzung an Schulen seien seit 1997 um mehr als die Hälfte gesunken.

Pfeiffer bezog sich auf die tödliche Prügelattacke auf einen jungen Mann am Berliner Alexanderplatz. Fürchterliche Ereignisse wie dieses erzeugten eine falsche Gesamtwahrnehmung. Der Eindruck von mehr und brutalerer Gewalt entstehe durch eine intensivere Berichterstattung der Medien, sagt der Kriminologe. Richtig sei das Gegenteil.

Früher habe man sich längst nicht so intensiv mit solchen Fällen beschäftigt wie heute. Auch habe vor etwa 20 Jahren eine stärkere Hinwendung zu den Opfern begonnen. Es werde nicht mehr primär der Täter betrachtet, sondern das Leiden der Opfer und seiner Angehörigen. Dem sei auch die Gesetzgebung mit dem Ausbau des Opferschutzes gefolgt.

Auch bei der Gewaltentwicklung gebe es eine Trendwende. Gewalt entstehe «durch Eltern, die ihre Kinder prügeln, durch eine grauenhafte Erziehung in der Kindheit», sagte Pfeiffer. «Man wird nicht zum Mörder geboren, man wird dazu gemacht.» Seit 30 bis 40 Jahren gehe aber die «Neuproduktion» von Gewalt in den Familien zurück.

Bei den Schusswaffentötungen habe es Mitte der 1990er Jahre noch mehr als 600 Fälle jährlich gegeben, heute seien es 130. «In allen Bereichen erleben wir einen beachtlichen Rückgang schwerster Gewalt», sagte der Kriminologe. Die Medien hielten sich aber an den Negativereignissen fest und erweckten dadurch den Eindruck, dass alles schlimmer werde.

Am frühen Sonntagmorgen war auf dem Berliner Alexanderplatz ein junger Mann asiatischer Herkunft von Unbekannten zusammengeschlagen worden. Er starb am Montag an den Folgen der Kopfverletzungen. Für die Ergreifung der Täter ist eine Belohnung von bis zu 15.000 Euro ausgeschrieben. Am 7. Oktober war ein 23-Jähriger am S-Bahnhof Alexanderplatz angeschossen worden. Wenige Tage zuvor war nach einem Fußballspiel zwischen Hertha BSC und Dynamo Dresden ein Behinderter mit Down-Syndrom von Unbekannten an einem Schal am S-Bahnhof Olympiastadion an ein Geländer gebunden worden und wurde dabei stranguliert. Das Opfer konnte noch gerettet werden.

epd-Gespräch:
Übergriffe auf Menschen scheinen immer brutaler zu werden. Woher kommt diese Brutalität? Ist unsere Gesellschaft verrohter als früher?

Christian Pfeiffer: Mord ist immer brutal. Wir vergessen schnell, dass wir vor fünf bis zehn Jahren genauso entsetzt waren, dass Leute auf diese Weise einen Mitmenschen töten. Die Zahl der vollendeten Morde ist aber im Verlauf der letzten 15 Jahre um 40 Prozent gesunken. Auch in anderen Bereichen erkennen wir, dass uns die gefühlte Kriminalitätstemperatur in die Irre leitet. Nehmen wir die Brutalität an Schulen. Bei den Körperverletzungen, die im Krankenhaus enden, haben wir dort seit 1997 ein Rückgang um mehr als die Hälfte. Deshalb gilt: Die Wahrnehmung, die wir alle haben, wenn so etwas Fürchterliches passiert, ist falsch. Das Gegenteil ist richtig.

Woher kommt diese Wahrnehmung?

Pfeiffer: Die Medien berichten intensiver darüber. Vor 30 Jahren haben sich die Medien mit solchen brutalen Vorfällen nicht längst so intensiv beschäftigt wie heute. Dahinter steht etwas Positives: Vor etwa 20 Jahren hat eine Hinwendung zum Opfer begonnen. Man hat nicht mehr primär die Täter betrachtet, sondern die Leiden der Opfer, hat sich um die Angehörigen gekümmert und darüber berichtet. Die Gesetzgebung ist dem gefolgt. Die Opfer haben in Strafverfahren mehr Rechte erhalten, der Opferschutz ist ausgebaut worden. Das alles ist begleitet von einer sehr viel intensiveren Berichterstattung der Medien über solche grauenhaften Geschichten. Die Folge davon ist, dass wir glauben, alles nimmt zu, obwohl es gar nicht steigt, sondern in Wahrheit zurückgeht.

Was sind die Ursachen solcher Gewaltexzesse?

Pfeiffer: Man wird nicht zum Mörder geboren, man wird dazu gemacht. Gewalt entsteht durch Eltern, die ihre Kinder prügeln, durch eine grauenhafte Erziehung in der Kindheit. Aber auch hier gibt es eine Trendwende. Seit 30, 40 Jahren geht die Neuproduktion von Gewalt in den Familien zurück. Bei den Schusswaffentötungen hatten wir Mitte der 90er Jahre noch über 600 Fälle, heute sind sie auf 130 zurückgegangen. In allen Bereichen erleben wir einen beachtlichen Rückgang schwerster Gewalt. Aber die Medien halten sich an den Negativereignissen fest und erwecken dadurch den Eindruck, alles wird schlimmer. Nicht auszuschließen ist aber, dass es in Berlin unter den speziellen schwierigen sozialen Bedingungen ausnahmsweise einen Zuwachs an Brutalität gibt. Dagegen spricht allerdings, dass wir vor zwei Jahren in Berlin eine Untersuchung zur Jugendgewalt durchführen konnten, die keinen Anstieg, sondern einen Rückgang skizzierte.


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