Fr, 18.07.2014Gewalt in den Familien und Kindesmisshandlungen nehmen seit 20 Jahren ab

Berlin/Hannover (epd). Die Polizeiliche Kriminalstatistik sorgte nach ihrer Veröffentlichung bundesweit für Schlagzeilen: Danach wurden im vergangenen Jahr 153 Kinder getötet. Bei den unter 14-Jährigen registrierte die Polizei 14.877 Opfer sexueller Gewalt und 4.051 Opfer von Misshandlungen - für einige Experten Beweis für den lückenhaften Kinderschutz. Doch es gibt auch andere Stimmen: Sie wehren sich gegen eine verkürzte Darstellung der Statistik, die den Eindruck erweckt, dass immer mehr Kinder Opfer von Gewalt werden und nicht weniger.

«Die Opferzahlen sind seit Jahren auf einem konstant hohen Niveau.
Ich sehe ein Versagen auf ganzer Linie», sagt der Rechtsmediziner und Leiter des Instituts der Rechtsmedizin der Charité in Berlin, Michael Tsokos. «In der Verkehrsunfallprävention würde man bei derartigen Zahlen von Kindern als eine Hochrisikogruppe sprechen», meint Rainer Becker, Vorsitzender der Deutschen Kinderhilfe: «Ein lückenloser Schutz für Kinder vor Gewalt und Misshandlung ist vielleicht illusorisch, aber es gibt noch viel Spielraum, Prävention und Schutz bestmöglich zu gestalten.»

«Wir verzeichnen bei den bis 14-Jährigen seit 1994 einen Rückgang von 157 auf 61 Fälle vollendeter, vorsätzlicher Tötungsdelikte», erklärt dagegen Professor Christian Pfeiffer, Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachen in Hannover. Der Teufel stecke im Detail: Die Zahl - 153 Opfer - schließe noch andere Kategorien als die vorsätzlichen Tötungen mit ein, wie beispielsweise die fahrlässigen Tötungen.

Auch habe das Risiko für Kinder, sexuell missbraucht zu werden, in Deutschland seit 1992 um die Hälfte abgenommen: «Deutschland ist ein gutes Land für Kinder, unsere Eltern sind die besten, die wir je hatten», so der Kriminologe. Seiner Ansicht nach werden die positiven Entwicklungen der letzten 20 Jahre im Kinder- und Jugendschutz und der Elternerziehung nicht angemessen wiedergegeben, sondern gar «verschwiegen».

Pfeiffer stützt sich auf Längsschnittuntersuchungen seines Instituts auf der Grundlage von Repräsentativbefragungen aus den Jahren 1992 und 2011: «Der Anteil von Deutschen zwischen 16 und 40 Jahren, die zu Hause völlig gewaltfrei aufgewachsen sind, hat sich seit 1992 verdoppelt», sagt Pfeiffer. Heute würden junge Menschen zu knapp 70 Prozent völlig gewaltfrei erzogen. Die Erziehungskultur habe sich deutlich hin zu einer liebevollen elterlichen Zuwendung gewandelt, gefördert auch durch das im Jahr 2000 gesetzlich verankerte Verbot, Kinder zu schlagen: «Es gibt keine Gewalteskalation in Familien, sondern eine deutliche Deeskalation.»

Abgenommen hat nach seinen Angaben auch die Gewalt, die von Jugendlichen selbst ausgeht. Sie ist seit 1997 pro 100.000 Angehörigen dieser Altersgruppe um 41 Prozent gesunken. Pfeiffer: «Jugendliche, die in ihrer Kindheit keine Gewalt erleben, werden später seltener selbst gewalttätig als solche, die Gewalterfahrungen gemacht haben.»

Susann Rüthrich, Kinderbeauftragte der SPD-Bundestagsfraktion, betont: «Jedes Kind, dass Gewalt erlebt, ist eines zu viel. Doch es gibt noch Schutzlücken für Opfer.» Sie hofft, dass Kampagnen wie beispielsweise «Kein Raum für Missbrauch», die der Beauftragter für Fragen des sexuellen Missbrauchs, Johannes Wilhelm Rörig, initiiert hat, zur Sensibilisierung der Bevölkerung beitragen. Noch müssten mehr Menschen ermutigt werden, auf Verdachtsfälle schneller zu reagieren.

Die SPD-Kinderbeauftragte kritisiert zudem, dass bundesweit die Beschäftigten in den Jugendämtern mit zu hohen Fallzahlen überfordert seien. Die vielfältigen Hilfen verschiedener Akteure seien oft nicht gut verzahnt. Ihre Zusammenarbeit müsse effektiver werden." Genauere Daten dazu seien bald zu erwarten, sagt Rüthrich. Denn darüber, wie Lücken im Kinder- und Jugendschutz geschlossen werden können, soll 2015 eine Evaluation des Bundeskinderschutzgesetzes Auskunft geben.

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