Fr, 04.11.2011Diagnose Spätabtreibung - Evangelische Krankenhäuser stehen vor ethischem Dilemma

Spätabtreibungen stellen besonders evangelische Krankenhäuser vor einen ethischen Konflikt. Es widerspricht dem christlichen Leitbild, die Schwangerschaft allein aufgrund einer möglichen Behinderung des Kindes abzubrechen.

Hannover/Stuttgart (epd). «Das Kind wird so oder so sterben, ersparen sie ihm und sich diesen langen Weg», empfiehlt ein Arzt den werdenden Eltern. Sätze wie diesen hört Annegret Braun, Leiterin einer diakonischen Beratungsstelle für vorgeburtliche Untersuchungen in Stuttgart, immer wieder von Betroffenen. Die Diagnose einer möglichen Behinderung des Fötus und die daraus resultierende Frage einer Abtreibung nach dem dritten Schwangerschaftsmonat stürzen alle Beteiligten in einen Konflikt: die Eltern, aber auch die Krankenhäuser und ihre Mitarbeitenden.

An evangelischen Krankenhäusern wird diese Auseinandersetzung besonders deutlich, wie ein aktuelles Beispiel aus Hannover zeigt. In der gemeinsamen Frauenklinik von Friederikenstift und Henriettenstiftung hat sich die Zahl der Spätabtreibungen im vergangenen Jahr verdoppelt. Dagegen setzt sich die orthopädische Fachklinik Annastift betont für ein Leben mit behinderten Kindern ein. Beide Häuser gehören der Holding Diakonische Dienste Hannover an. Wie viele evangelische Kliniken in Deutschland Spätabtreibungen aufgrund vorgeburtlicher Untersuchungen zulassen, ist nicht bekannt.

Bundesweit entscheiden sich fast 3.000 werdende Eltern pro Jahr für eine Spätabtreibung nach der 12. Schwangerschaftswoche. Nach der 22. Woche hatte es der Statistik zufolge 2010 fast doppelt so viele Abbrüche wie im Vorjahr gegeben.

Der Direktor des Deutschen Evangelischen Krankenhausverbandes in Berlin, Pastor Norbert Groß, spricht von einem Dilemma. «Auf der einen Seite haben wir den Auftrag, in positiven Krisensituationen wie Schwangerschaft und Geburt zu helfen. Aber wir machen das mit technischen Mitteln, die uns in der Anwendung an Grenzen führen, die wir nicht überschreiten wollen und im Einzelfall doch überschreiten müssen.»

Auch die Diakonie der hannoverschen Landeskirche ist besorgt über die Entwicklung. Der stellvertretende Direktor Jörg Antoine, erklärt, die gesetzliche Grundlage für Spätabbrüche sei die schwerwiegende Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren. In der Praxis habe die neue Gesetzesregelung von 2010 zur Spätabtreibung von bereits lebensfähigen behinderten Kindern geführt. Der Bundestag hatte das Gesetz nach heftigen Debatten über die Auswirkungen der vorgeburtlichen Diagnostik (PND) fraktionsübergreifend verabschiedet.

Diakonische Einrichtungen seien verpflichtet, Beratungen für das Leben zu vermitteln, sagt Antoine. «Die Diagnose einer Behinderung ist für jeden ein Schock. Sie greift massiv in das persönliche Leben ein.» Behindertenvereine könnten helfen, Eltern einen Eindruck von einem Leben mit einem behinderten Kind zu vermitteln.

Beraterin Braun weiß oft nicht mehr, in welche Klinik sie die Eltern schicken kann, die sich nur begrenzte pränatale Untersuchungen wünschen. So würden Fruchtwasseruntersuchungen, die beispielsweise ein Down Syndrom feststellten, immer mehr zu Routinechecks. «Auch evangelische Krankenhäuser beteiligen sich aus ökonomischen Erwägungen direkt oder indirekt an dieser Selektion», erläutert sie. Diesen Vorwurf weist Verbandsdirektor Groß allerdings zurück.

Ein weiteres Problem sieht Braun darin, dass es an allen Kliniken Ärzte gebe, die den werdenden Müttern sehr schnell eine Abtreibung nahelegen, wenn die pränatale Untersuchung einen auffälligen Befund aufweist. «Die Eltern erfahren dann zum Beispiel, dass sich 95 Prozent bei einem Down Syndrom für einen Abbruch entschieden haben.»

Der Pränatal-Experte Professor Ralf Schild vom Friederikenstift will Spätabtreibungen in diakonischen Kliniken nicht grundsätzlich infrage stellen. «Ich halte es für inkonsequent und nicht verantwortlich, einerseits pränatale Diagnostik anzubieten, andererseits die betroffenen Frauen im weiteren Verlauf an andere Stellen zu verweisen», schreibt er in einem Zeitungsbeitrag.

Dagegen ist Ulrich Spielmann, Vorsitzender der Geschäftsführung des Annastifts «Leben und Lernen», der Ansicht, dass die diakonischen Krankenhäuser die Eingriffe mit selektiver Zielsetzung aus unternehmensethischer Sicht nicht anbieten sollten. Spätabtreibungen seien nicht mit einem gleichzeitigen unterstützendem Angebot für Menschen mit Behinderungen vereinbar. Für alle Mitarbeiter sei es ein klares und beruhigendes Signal, wenn die Krankenhäuser Spätabtreibungen ablehnten.

Für Verbandsdirektor Groß steht dieser Konflikt in einem größeren Kontext. «Unsere Gesellschaft erlaubt es sich, im Zweifelsfall die Frau vor das Kind zu stellen.» Es sei immer schmerzhaft, wenn man sich für die Mutter und gegen das Kind entscheide. «Eindeutige Lösungen gibt es bei diesem Gewissenskonflikt für keinen der Betroffenen, weder für die Kliniken noch für die werdenden Eltern.»


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