Mo, 02.02.2009Das Monster im Nacken - Viele Jungen leiden vor allem in der Familie unter Gewalt

Von Dieter Sell/epd/Bremen.  Peter* wird von seinen Eltern geschlagen. Thiemo ist über mehrere Monate von einem Nachbarn sexuell missbraucht worden. Marvin wird schon seit der ersten Klasse von seinen Mitschülern verprügelt, gequält und ausgeraubt. Er ist isoliert, traut sich fast nichts zu und hat schon über einen Suizid gesprochen. Wie ein Monster sitzt den Jungen im Alter zwischen zehn und 13 Jahren die Gewalt im Nacken. Es hat lange gebraucht, bis sie bereit waren, über ihre Erfahrungen als Opfer zu reden. Im Bremer «Jungenbüro» finden sie offene Ohren und Hilfe.

   «Wenn es in der Öffentlichkeit um Jungen geht, dann meistens um ihre Bildungschancen oder um Jungen als Gewalttäter», sagt der Bremer Pädagoge Rolf Tiemann am Freitag am Rande einer Fachtagung zu den Opfererfahrungen von Jungen. «Dabei wird übersehen, dass der größte Teil körperlicher Gewalt nicht nur von Jungen ausgeht, sondern auch gegen Jungen ausgeübt wird.» Der Freiburger Sozialwissenschaftler Hans-Joachim Lenz kritisiert, vielen Betroffenen mache die gesellschaftliche Verleugnung männlicher Verletzbarkeit schwer zu schaffen.

   Unter seiner Federführung entstand mit dem Titel «Gewalt gegen Männer» im Auftrag des Bundesfamilienministeriums eine Pilotstudie. Sie ist zwar nicht repräsentativ, lieferte aber erste wissenschaftliche Erkenntnisse. «Jungen werden am häufigsten im familiären Bereich Opfer von Gewalt», bilanziert Lenz. Nach Daten aus der Kriminalstatistik gelte das für jeden fünften Jungen in deutschen Familien und für jeden vierten in einer Zuwandererfamilie. Hilfseinrichtungen wie das Bremer Jungenbüro haben in Deutschland trotzdem Seltenheitswert.

   Dass die Öffentlichkeit größtenteils blind für die Nöte von Jungen wie Peter, Thiemo und Marvin ist, hat nach Auffassung der Experten auch etwas mit dem Männlichkeitsbild zu tun. In den Schulen verwenden Jugendliche den Begriff «Opfer» als Schimpfwort. Mann und Opfer - das schließt sich in ihren Augen aus. In den Familien werden Jungs außerdem härter angefasst als Mädchen. «Da gilt vielfach noch der alte Spruch, dass Jungen gestählt werden müssen, dass erst Prügel einen Mann aus ihnen macht», sagt Lenz. Frauen und Männer seien daran gleichermaßen beteiligt, oft in Arbeitsteilung: «Die Mutter droht mit Schlägen, der Vater führt sie aus, wenn er abends nach Hause kommt.»

   Lenz vergleicht den derzeitigen Stand der Jungenarbeit in Deutschland mit dem der Mädchen- und Frauenarbeit in den 1980er-Jahren. Er warnt: «Die Betroffenen werden erst dann ernst genommen, wenn sie sich selbst als Gewalttäter inszenieren.» Erschwert wird die Situation, weil die wenigen Helfer besonders an die Opfer häuslicher Gewalt schwer herankommen, denn die Eltern - sonst wichtigste Ansprechpartner - melden ihre Söhne natürlich nicht zur Sprechstunde an. Das Bremer Jungenbüro plant deshalb eine Online-Beratung, die Selbstbehauptungskurse und Jungengruppen ergänzen soll.

   «Jeder zehnte Junge erlebt Mobbing in der Schule, auf der Straße oder im Sportverein. Jeder elfte Junge leidet unter sexueller Gewalt durch ältere Jugendliche, erwachsene Männer oder Frauen», sagt Tiemann. «Das Problem liegt aber darin, dass beispielsweise schwere Mobbing-Fälle an einigen Schulen schlicht und einfach nicht als Gewalt wahrgenommen werden. Und wenn, dann gilt die ganze Aufmerksamkeit den Tätern.» Bremen will das ändern und das vor zwei Jahren als Modellprojekt gestartete Jungenbüro als Regeleinrichtung weiterführen.

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