Do, 03.04.2014Aufbruch nach Utopia - Im 19. Jahrhundert wollen deutsche Auswanderer in Amerika eine «Musterrepublik» gründen

Sie wollen einen besseren Staat - und scheitern mit der gemeinsamen Idee. Vor 180 Jahren flüchten Auswanderer über Bremerhaven vor fürstlicher Willkürherrschaft. Ihr Beispiel zeigt: Der Hass auf die Missstände reicht nicht als Motor für Visionen.

Bremen/Bremerhaven (epd). Kein Brunnen, nirgends. Dafür Sand und Schlick. Als 500 gut ausgebildete Auswanderer im Frühjahr 1834 aufbrechen, um in Amerika eine deutsche Musterrepublik aufzubauen, endet die Reise für einen Teil der Gruppe jäh an der Weser bei Bremen. Kein Schiff weit und breit, das sie in die neue Welt trägt. Dafür ein Notbiwak auf dem öden Harriersand, heute Europas längste Flussinsel. Ein Wartesaal unter freiem Himmel, die Unterkunft «ein elender Kuhstall». Eine Ausstellung in Bremen zeigt: Der Aufbruch in die Utopie droht in ätzender Langeweile zu ersticken.

Nach dem Wiener Kongress riecht es in Europa nach Revolution.
Fürstliche Willkürherrschaft, Kleinstaaterei und politische Verfolgung bringen Büchners «Hessischen Landboten» hervor. Die Streitschrift propagiert in einer bis heute berühmten Formulierung «Friede den Hütten! Krieg den Palästen!». Doch der Rechtsanwalt Paul Follenius und der evangelische Pfarrer Friedrich Münch wählen einen anderen Weg. Sie gründen die «Gießener Auswanderungsgesellschaft» und entscheiden sich zur Flucht vor den Missständen.

In einer 25-seitigen Deklaration formulieren sie eine «Aufforderung und Erklärung Betreff einer Auswanderung aus Teutschland im Großen in die nordamerikanischen Freistaaten». Gleiche Grundrechte für alle, politische Teilhabe, Wahl-, Bildungs- und Entscheidungsfreiheit, das sind ihre Ziele.

Ein bis dahin und auch danach einmaliges Vorhaben, sagt die Migrationsforscherin Simone Eick. «Eine geschlossene Gruppe in der Größe, das blieb einzigartig», bilanziert die Historikerin, die in Bremerhaven das Deutsche Auswandererhaus leitet. Das spiegele sich auch in den Gesamtzahlen wider: «Im 19. Jahrhundert wanderten etwa 5,5 Millionen Menschen aus Deutschland aus, 10.000 davon aus politischen Gründen.»

«Die Gießener Auswanderergesellschaft ist ein früher und einzigartiger Beitrag zur deutschen Demokratiegeschichte - und fast vergessen», sagt der Berliner Filmemacher Peter Roloff. Mit anderen wie dem Bremer Rolf Schmidt hat er über Jahre die Geschichte der Gruppe erforscht und in einer Ausstellung zusammengetragen, die nun in Deutschland und Amerika gezeigt wird. «Die wollen einen Staat gründen, aber kommen von dieser Insel nicht weg - das ließ mich nicht mehr los», erzählt Roloff.

Das Ergebnis ihrer Recherche ist eine Reise durch damalige und heutige Utopien, die von Sonnabend an in der Bremer Kulturkirche St. Stephani zu sehen ist. Die Ausstellung zeigt, dass etwa die Hälfte der Gruppe auf dem Segler «Olbers» schnell in die neue Welt aufbrechen kann. Die andere Hälfte jedoch strandet auf Harriersand, weil das bestellte Schiff nicht kommt. «Sie schweben im luftleeren Raum: Nicht mehr in der Heimat, aber auch noch nicht auf dem Weg nach Amerika», beschreibt der Bremer Autor Rolf Schmidt die dramatische Lage.

Erinnerungen an das Schicksal gegenwärtiger Flüchtlinge etwa in der spanischen Nordafrika-Exklave Melilla werden wach, wenn in Tagebüchern der damaligen Zeit von Entbehrungen oder auch von Zank und Streit unter den Emigranten die Rede ist. Zwei Monate, nachdem die «Olbers» in Bremerhaven Segel setzt, folgt schließlich die «Medora» mit dem Rest der Auswanderergesellschaft vom Harriersand.
Unter großen Strapazen kommen die meisten in Amerika an, von Krankheiten und Zweifeln geplagt.

Am Ende scheitert die Vision eines demokratischen Musterstaates. «Die Idee, eine Republik in einem demokratischen Land zu gründen, ist aber auch absurd», resümiert Historikerin Eick und ergänzt: «Alle politisch motivierten Auswandergesellschaften sind gescheitert.»

Akribisch hat Rolf Schmidt in Amerika Dokumente gesichtet, um genauere Gründe herauszufiltern. «Die Gießener Auswanderer wurden nur durch ihren Hass auf die Verhältnisse im absolutistischen Deutschland und die Hoffnung auf ein menschlicheres und politisch freieres Leben zusammengehalten», meint der 76-Jährige und schließt: «Das war offenbar kein sehr fester ideologischer Kitt.»

Überdies belasteten die Auswanderer unzureichende Führung, aufkommende Fremdenfeindlichkeit in Amerika und fehlendes Wissen über die Verhältnisse vor Ort. Soll die Auswanderung gelingen, sind bis heute neben einer guten Berufsausbildung vor allem genaue Informationen über das Ziel wichtig. «Man sollte das Land, in das man einwandern will, auch abseits der touristischen Regionen kennen», sagt Uta Koch vom deutschen Raphaelswerk in Hamburg, das bundesweit Auswanderungswillige berät. «Drei Sommerurlaube reichen da nicht.»

Ohnehin sind damals wie heute die Menschen, die ihrer Heimat aus politischen Gründen den Rücken kehren wollen, absolute Exoten. Berufliche und finanzielle Gründe stünden im Vordergrund, sagt Koch. «Meistens sind es persönliche und familiäre Motive.» Das könne schlicht und ergreifend die Liebe sein. «Ein großer und oft unterschätzter Motor.»

Zur Ausstellung in St. Stephani gehört eine Diskussionstafel, an der sich die Besucher Gedanken über die gesellschaftlichen Utopien der Gegenwart machen können. Auch Initiator Peter Roloff räumt ein, die politisch motivierte Auswanderung mit dem Ziel, einen neuen Staat zu gründen, sei gescheitert. Aber die Auswanderer hätten sich in die amerikanische Gesellschaft eingebracht und dort etwas verändert. Der Filmemacher ist überzeugt: «Die Kraft einer utopischen Idee kann auch heute noch etwas bewegen.»

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