Mo, 08.04.2013Ärmelkauen als Stressbewältigung: Die Marotten der Kinder

Sie drehen an ihren Haaren, laufen kleine Kreise, kauen an den Fingernägeln: Viele Kinder entwickeln Marotten, die ihre Eltern zur Verzweiflung treiben.

Göttingen/Frankfurt a.M. (epd). Wenn der kleine Jan (7) abends ins Bett geht, folgt er einem festen Ritual: Er öffnet und schließt seine Kinderzimmertür drei Mal hintereinander. Dann schiebt er den Stuhl ganz nah an seinen Schreibtisch ran und stellt seine Pantoffeln penibel vor dem Bett auf. Erst wenn er noch mehrmals zur Toilette gegangen ist und seinen Eltern jedes Mal wieder Gute Nacht gesagt hat, ist ans Einschlafen zu denken. «Das macht einen manchmal schon wahnsinnig», sagt seine Mutter genervt.

Dabei sind kindliche Marotten keine Seltenheit. Es gibt sie in allen Formen und Ausprägungen: Die eine zwirbelt und dreht an ihren Haaren, der andere kaut Fingernägel oder lutscht auf dem Bündchen seines Ärmels herum. Manche Kinder lecken sich ständig die Lippen, so dass keine Pflegecreme der Welt gegen den feuerroten Mund ankommt. Andere müssen partout immer dreimal über eine Mauer balancieren oder setzen ihren Fuß nur genau in die Mitte der Gehwegplatte und bloß nicht auf die Fugen dazwischen.

Schätzungen zufolge ist jedes fünfte Kind im Vorschulalter davon betroffen, und noch jedes zehnte Schulkind zeigt zwanghafte Verhaltensweisen. An den Fingernägeln kaut sogar ein Drittel aller Kinder und Jugendlichen.

«Das heißt noch lange nicht, dass das Kind gestört ist», sagt die Kinderpsychiaterin und Psychotherapeutin Annette Streeck-Fischer. Gewisse Marotten gehörten durchaus zur normalen Entwicklung eines Kindes, sagt die Expertin vom Fachklinikum Tiefenbrunn bei Göttingen. Oft seien zwanghafte Angewohnheiten für Kinder ein Ventil, um innere Unruhe, Angst oder Nervosität zu überspielen. «Das ist eine Form des Umgangs mit sich selbst», sagt Streeck-Fischer: «Erwachsene greifen in solchen Augenblicken zur Zigarette.»

«Marotten sind eine Form der Stressbewältigung», sagt auch der Münchner Kinderpsychotherapeut Peter Lehndorfer. Kinder durchliefen Entwicklungsschritte, bei denen Unsicherheiten aufträten. «Die Marotten helfen dabei, diese Unsicherheiten zu bewältigen.» Und egal, wie nervig das Verhalten eines Kindes für seine Eltern auch sein mag: Lehndorfer rät, die Verhaltensweisen nicht direkt anzusprechen.

«Eltern sollten eher versuchen herauszufinden, was es ist, das das Kind beunruhigt, und es in Belastungssituationen ablenken», meint Lehndorfer, der auch im Vorstand der Bundespsychotherapeutenkammer sitzt. Ein Kind aufzufordern, nicht mehr am Daumen zu lutschen, bringe wenig. «Aber vielleicht hilft es, ihm eine Gute-Nacht-Geschichte zu erzählen, damit es ohne Daumenlutschen in den Schlaf findet.»

Marotten treten häufig in sogenannten Schwellensituationen auf: «Etwa beim Wechsel vom Kindergarten in die Schule, beim Wechsel auf die weiterführende Schule, beim Umzug in eine andere Stadt» sagte Annette Streeck-Fischer.

Wichtig sei, dass Eltern ihr Kind unterstützten und bei seinen Entwicklungsschritten begleiteten. «In einer aufmerksamen und liebevollen Familie geben Kinder ihre Marotten in der Regel schnell wieder auf», sagt sie. Doch wenn die zwanghaften Angewohnheiten länger als drei Monate anhalten und den ganzen Tagesablauf bestimmen, dann sollten bei Eltern die Alarmglocken läuten, meint Lehndorfer.

Wenn ein Kind zum Beispiel an einem Waschzwang leidet und sich den ganzen Tag lang fast ununterbrochen die Hände wäscht, sollten Eltern ihren Kinderarzt konsultieren. Auch wenn sich Kinder blutig kratzten oder sich auf andere Weise selbst verletzten, bestehe Handlungsbedarf: «Besser einmal zu viel zum Arzt gehen als einmal zu wenig. Denn für Eltern ist es oft sehr schwierig zu unterscheiden, wo eine Marotte aufhört und eine Zwangshandlung anfängt.»

Streeck-Fischer rät jedoch zur Gelassenheit: Selbst in der Pubertät seien Marotten keine Seltenheit. Viele Jugendliche kauten Nägel oder zwiebelten ständig an ihren Haaren herum. Irgendwann gebe sich das von selbst. «Dass man als Erwachsener noch immer auf seinen Nägeln herumbeißt, ist eher selten.»

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